Musik vor 1600 - 2017_wise_rabe
12. Mai 2017, 10:00 Uhr
August Rabe M.A.
(Institut für Musikwissenschaft, Universität Wien)

Fundamentum organisandi – Didaktik am Tasteninstrument ca. 1440–1540

Fundamentum – mit diesem aus der Architektur entlehnten Begriff bezeichneten Organisten über 100 Jahre lang eine didaktische Praxis, durch die eine Transformation eines einstimmigen Gesanges – des cantus firmus – zur Mehrstimmigkeit gelehrt wurde. Anders als heutige Lehrkonzepte, bei denen die komplizierte »Wirklichkeit« anhand möglichst weniger abstrakter Regeln fassbar gemacht werden soll, verwenden die Fundamenta eine Vielzahl von Lehrbeispielen, die in sich geschlossene Sinneinheiten bilden, in der Summe aber ein breites Spektrum an (Lösungs-)Möglichkeiten bieten. Die musikwissenschaftliche Forschung sah in den zum Teil nur mit wenigen Über- und Beischriften versehenen Folgen von Exempla bisher vor allem eine ›Vorstufe‹ zum enzyklopädischen Traktat, wie er auf anderen musiktheoretischen Gebieten zu gleicher Zeit üblich war. Eine These dieser Arbeit ist, dass das Fragmentarische, das ›Unfertige‹ zum Wesen der Fundament-Didaktik gehört – und dass diese einer offenen, auf Zuwachs und individuelle Anpassung abzielenden Organisation unterliegt. Die Beispielsammlungen scheinen in der Summe ein Diagramm zu ergeben, das potenziell eine Vielzahl von dynamischen Erkenntnisprozessen in sich trägt. Als Teil einer Vermittlungsstrategie, die einen kundigen Lehrer erfordert, der die mannigfaltigen Erkenntnispotenziale erkennt und aus dem Material sinnvolle Lerneinheiten ableitet, geben die Fundamenta Einblick in die Konzepte ihrer Urheber. Eine Kontextualisierung vor dem Hintergrund anderer zeitgenössischer Lehrwerke – wie zum Beispiel zum Briefschreiben oder zur Gedächtniskunst – zeigt die Fundament-Didaktik als eines von zahlreichen Konzepten, bei dem diagrammatische Denkmuster die Verschriftlichung semiliterater Lehr- und Lernprozesse prägen.